Camping in den Gerippen der Moderne:
Ursula Döbereiners view002b


Was also, wenn wir einen Schritt weitergehen, und uns eine Frau vorstellen, die die Haut ihres Gesichts „auszieht“, und das was wir unter ihrem Gesicht sehen, eben genau das ist - eine anonyme, dunkle, weiche Burka-artige Oberfläche, mit einem schmalen Schlitz, durch den der Blick fällt?...


Slavoj Žižek, The Two Types of the Fear of the Burka1


Irgendwie ist bei Ursula Döbereiner alles Oberfläche. An manchen Tagen, wenn ich mit ihr in einem Café sitze und hinter ihrer Insekten-Throbbing-Gristle-Sonnenbrille der Blick abschweift, spüre ich, wie es rattert. Crunch, crunch. Ich stelle sie mir dann als Scanner vor, der bestimmte Details festhält: die Reflektion auf einer Schaufensterscheibe am Kottbusser Damm, auf der SALE steht, ein Schild RESTPOSTEN AUS LONDON, ein merkwürdiger Stil von Irgendjemandem, ein Muster auf einem Rock, die Überschrift auf einer Zeitung. Ursula ist ein Scanner, der nach tollen Looks sucht, nach bestimmten Architekturen, Gesten, Worten. Dabei bleibt sie komischerweise fast immer bei billigen, notdürftigen, nachgemachten, massenhaften Sachen hängen oder bei Dingen, die nicht mehr richtig funktionieren oder nie funktioniert haben, die so viel oder wenig sind, dass sie den meisten Menschen nicht auffallen. Sie reagiert auf diese Sachen wie ein Detektor, der bei bestimmten Reizen anspringt: auf ein Funkeln, ein Rascheln, die Biegung eines Buchstabens, auf die Haptik oder Kombination von Materialien. Tatsächlich ist sie augenblicklich eine Maschine. Eine Burka-Maschine, die zusammen mit der Künstlerin Chris Dreier die Band Burqamachines bildet, die in immer wieder neuen Konstellationen auftritt, sehr häufig mit dem Autor und Performer D. Holland-Moritz. Von den anderen, temporären Bandmitgliedern weiß ich nicht viel, denn sie stecken immer unter Burkas. Ich habe aber gehört, dass es sich um Männer, Frauen und Teenies aller möglichen Altersklassen, Hautfarben, Religionen und sexueller Orientierungen handeln soll. Ich habe den Verdacht, ich kenne ein paar von den Leuten.

Ich war sehr verunsichert, als ich die Band zum ersten Mal bei SEPTEMBER sah, wo sie 2010 im Rahmen der Ausstellung „Thema Frau“ auftraten. Damals hießen sie noch Burqarettes – zwei in schwarz-glänzende Burkas gehüllte Figuren mit E-Gitarre, Samplern, Kaoss Pad und Synthesizern die die Galerie mit ohrenbetäubenden Industrial- und Elektrosounds füllten. Während der Performance kamen noch mehrere Burkaträger(innen) in blauen Versionen hinzu. Ich stand an der Bar. Eine Stimme unter einer der blauen Burkas sagte „Hallo“ und kicherte ein bisschen. Aus Verlegenheit bot ich ihr oder ihm ein Glas Prosecco an und stotterte dazu: „Aber das willst du bestimmt nicht“. Es war völlig bizarr. Ich dachte nicht nur übertrieben höflich an das Alkoholverbot für Muslime, sondern auch an die Schwierigkeit, unter diesem Gewand zu trinken. Von meinem Gegenüber kam keine Antwort. Da, wo ich eine Person, einen Blick erwartete, stieß ich nur auf eine Oberfläche. Die Burka schwebte lautlos wieder weg und ließ mich errötend zurück.


Seit dieser sehr peinlichen ersten Begegnung habe ich die Band häufiger gesehen, unter anderem bei einer Dichterlesung, bei der Döbereiner und Dreier mit Sonnenbrillen im Publikum saßen und zwei selbstgebastelte Automatenpuppen unter den Burkas fernsteuerten, während D. Holland-Moritz las. Unter den Burkas blinkten bunte Lämpchen und entfalteten eine sprach-rhythmische Lichtchoreografie, die an HAL 9000, den mörderischen Computer aus Stanley Kubriks 2001: Odyssee im Weltraum denken ließ. Inzwischen bin ich Fan und freue mich, dass es jetzt auch die Fanzines view002 und view002b gibt, die von Ursula Döbereiners Bandaktivitäten inspiriert sind. Aufgebaut aus Din A4- Modulen funktioniert das Zine nach dem Prinzip der sogenannten „Starschnitte“, die zwischen 1959 und 2006 vom Jugendmagazin „Bravo“ veröffentlicht wurden. Jede Woche gab es bis zu zwei Seiten zum Sammeln und Ausschneiden. Die Teile ergaben nach dem Zusammenkleben ein lebensgroßes Poster des Stars.

Bei den view-Postern handelt es sich um digitale Collagen, die Döbereiner aus Images aus dem Internet montiert hat, die sie unter verschiedenen Suchbegriffen auf Google recherchiert hat: Burka, Mimikry, Tarnung, Mimese, Unsichtbar werden, Weltflucht, Nachahmung, Anpassung, Ähnlichkeit, Signalfälschung, Geheimtür, Geheimgang, Versteck, Zuflucht, Schleier, Vollverschleierung, Vermummung, Verschleierungs- und Vermummungsverbot, Gespenst, Spuk, Sinnestäuschung, Intrige, Schauerliteratur, Farce, Scheinauthentizität, Täuschung, Lügengeschichte, Traumwelt, Dilemma.

All diese Schlagworte hängen mit Döbereiners semiotischem Interesse am Phänomen „Burka“ zusammen. Hierbei funktioniert sie auch selbst wie eine Sammel- oder Suchmaschine, die intuitiv auf Oberflächen und Erscheinungen reagiert und erst im Anschluss die offensichtlichen oder unterschwelligen „Inhalte“ analysiert. Die letztendliche Auswahl der Motive geschieht im Hinblick auf zwei diametral entgegengesetzte Perspektiven, die das view-Fanzine wie auch die Performances der Burqamachines thematisieren: den Blick auf die Burka und den Blick aus der Burka – mit all seinen Implikationen.

Zum einen ist da das „schwarze Loch“, das die Burka aus westlicher Sicht in unsere Wirklichkeit reißt, indem sie alle für uns wesentlichen Informationen der Trägerin ausblendet: das Gesicht, den Körper, die Frau, die Identität. All das scheint wie „aus der Welt radiert“ und wird ersetzt durch einen flächigen, anonymen Umriss. Die Burka-Phobie im Westen hat nicht nur politische, aufklärerische Gründe, sondern beruht auch auf einer tiefsitzenden, psychologischen Unsicherheit, wie es Slavoj Žižek in seinem Text The Two Types of the Fear of the Burka2 beschreibt: „Aus einer Freudschen Perspektive ist das Gesicht die ultimative Maske, die den eigentlichen Horror der Nachbarschaft verbirgt: Es ist das Gesicht, das den Nachbarn zum „le Semblable“ macht, zum Mitmenschen, mit dem wir uns identifizieren und mitfühlen können (...). Und genau deshalb ruft ein bedecktes Gesicht solche Ängste hervor: weil es uns ganz direkt mit der Andersartigkeit konfrontiert, mit dem Nachbarn in all seinen unheimlichen Dimensionen.“

Zum anderen ist da der Blick aus dem geschützten Inneren der Burka, der durch den Sehschlitz definiert wird, der immer eine Begrenzung und einen Rahmen hat. Wieder geht es um ein Loch in der Wirklichkeit, den relativ kleine Ausschnitt, durch den die Welt gesehen wird, während große Teile außerhalb dieses „Fensters“ ausgeschnitten oder ausgeblendet werden. Diese beiden Perspektiven sind untrennbar verbunden mit den ideologisch, beziehungsweise religiös besetzten Polaritäten des Entblößens und des Verhüllens, die in den Debatten um Verschleierungs- und Kopftuchverbote zu erbitterten Auseinandersetzungen geführt haben.

Die Burka gilt nicht nur in der konservativen, sondern auch in der liberalen westlichen Welt zumeist als Symbol der Unterdrückung von muslimischen Frauen, die durch die Verschleierung aus dem öffentlichen Raum und dem sozialen Leben ausgeschlossen werden und sich einer brutalen, patriarchalischen Ordnung unterwerfen müssen. Zugleich regt sich besonders bei marxistischen Denkern wie etwa Slavoj Žižek und Alain Badiou oder Feministinnen wie Nina Power Widerstand gegen diese grundsätzliche Vereinfachung. Denn es geht nicht nur um die Rechte der Frauen oder gar Feminismus. In ganz Europa nutzen konservative und rechte Politiker Ängste vor islamischem Fundamentalismus, um vermeintlich nationale Werte zu betonen. So sagte der CDU/ CSU Vorsitzende Volker Kauder 2012 im Vorfeld der Islamkonferenz: „Der Islam ist nicht Teil unserer Tradition und Identität in Deutschland und gehört somit nicht zu Deutschland“.

Wie paradox solche populistischen Statements sind, mit denen häufig auch in der Debatte um Kopftuchverbote argumentiert wird, zeigte Alain Badiou 2004 sehr polemisch in seinem Text Behind The Scarfed Law, There is Fear auf: Die Reaktion auf Aus- und Abgrenzung kann nicht Aus- und Abgrenzung sein: „Außergewöhnliche Anlässe brauchen neuartige Argumente. Zum Beispiel: der Hidschab gehört verboten. Er bezeugt männliche Macht (des Vaters oder des ältesten Bruders) über junge Mädchen oder Frauen, deshalb werden wir die Frauen, die sich aus Überzeugung verschleiern, ausweisen. Einfach gesagt: Diese Mädchen oder Frauen werden unterdrückt. Dafür sind sie zu bestrafen. Es ist in etwa, als würde man sagen: Diese Frau ist vergewaltigt worden, wirf sie ins Gefängnis...“3

In ihrem Buch Die eindimensionale Frau spricht Nina Power von einem „imperialistischem Feminismus“. Ultra-konservative westliche Kräfte nutzen die Sprache des liberalen Feminismus (Ausweitung der Menschen- und Wahlrechte) und rufen im Namen der Befreiung und Emanzipation von muslimischen Frauen zu Krieg und Bombardierung auf. Zugleich verweist Power auch auf einen Umstand, den Badiou in seinem Text hervorhebt. ”Es wird überall gesagt, dass der Schleier ein nicht zu tolerierendes Symbol der Kontrolle über weibliche Sexualität sei. Aber glauben Sie wirklich, dass die weibliche Sexualität in unserer heutigen Gesellschaft nicht kontrolliert ist?“4 Beide, Power und Badiou, diagnostizieren das Prinzip des Entkleidens, die weibliche Bereitschaft, sich „in jedem Augenblick an das Ausziehen zu erinnern“, als ein Kontrollinstrument des Kapitalismus, in dem der „weibliche, prostituierte Körper allgegenwärtig ist5“, in dem, so Power, ein Mädchen schon zeigen muss, was sie hat: “Sie muss ihre Waren feilhalten. Sie muss zeigen, dass folglich, die Zirkulation von Frauen einem verallgemeinerten Modell folgt und nicht einem beschränkten Austausch. Welch ein Pech für bärtige Väter und Brüder! Lang lebe der globale Markt! Das verallgemeinerte Modell orientiert sich an Topmodell (...). Wer dabei zu verdecken versucht, was sie auf den Markt bringt, ist kein loyaler Marktteilnehmer.“6 In diesen Zusammenhang beschreibt Power das Kopftuchverbot als „kapitalistisches Gesetz“7.

Ursula Döbereiner nutzt das visuelle Material, das sie unter den verschiedenen Schlagworten im Umfeld zu „Burka“ gefunden hat und unterwirft es diesen beiden Prinzipien: dem Verhüllen/ Anonymisieren und allgegenwärtigen Zwang der Entblößung. Sie spielt also beide ideologisch aufgeladenen Sichten gegeneinander aus, überlagert sie und lässt sie auch die Rollen tauschen. Das Entblößte verhüllt sich, das Verhüllte entblößt sich. Die Motive, die sie auswählt, sind ganz unterschiedlicher Herkunft. Das reicht von Internetforen, auf denen Burka-Trägerinnen das Interieur ihrer Wohnungen vorstellen, über Titelbilder von Groschenromanen bis zu Anzeigen für Projektoren aus den frühen 1970er Jahren. Wie die Burqamachines sind auch die Burka-Trägerinnen immer zu zweit.

Döbereiner nimmt dieses Material mit all seinen Bedeutungen, ideologischen, religiösen Aufladungen und behandelt es wie die Module von Architektur. In Photoshop schneidet sie Löcher und Umrisse in die Motive und entfernt und anonymisiert so in Anlehnung an die Burka das Eigentliche, das worum es geht: das Gesicht, das Produkt, den Inhalt. Das übriggebliebene, durchlöcherte, sinnentleerte „Gerippe“ des Motivs legt sie dann als „Ebene“ über ein anderes Motiv, das sie so „verschleiert“. Auch in dieses untere Motiv können wieder „Sehlöcher“ oder „blinde Flecken“ geschnitten werden. Diesen Prozess setzt Döbereiner weiter fort, so dass der Eindruck von räumlicher Tiefe, einer Art abstrakter Architektur entsteht. Zugleich sind viele ihrer digitalen Collagen im 3-D Verfahren konstruiert, dass man sie mit einer entsprechenden Brille tatsächlich dreidimensional, mit all ihren hintereinander gelegten Schichten sehen kann. Diese Architektur gleicht einem Denkgebäude, das nackt und entblößt vor einem liegt. Es ist eine Konstruktion aus ausgeschlachteten, im wahrsten Sinne „durchschauten“ Resten – und dabei zugleich verschleiert, völlig undurchschaubar. Vorgefundene Werbeslogans wie „Who are you?”, “Come on open up!“ oder „I am a projector“ ähneln verlorenen Rufen in einem Geisterhaus der Moderne. Zugleich erscheinen sie wie ganz einfache Denkbewegungen, die den Anfang eines Dialogs oder Diskurses bilden könnten, in dem es um all die Themen geht, die die Auseinandersetzung um das Verschleierungsverbot berührt: Fragen nach Identität, öffentlichem und privatem Raum, nach Emanzipation, nach Realität und Projektion.

Das Prinzip einer modularen Denkarchitektur wendet Döbereiner dabei nicht nur auf die Herstellung ihrer digitalen Collagen, sondern auch auf deren Präsentation an: Die aus dem Fanzine zusammengesetzten Poster können in verschiedenen Modulen an die Wand tapeziert oder auch übereinander gehängt werden. So wenig wie die Burqamachines eine burleske Performancegruppe sind, die ironische Kommentare zur islamischen Kultur abgibt, bezieht Ursula Döbereiners view-Serie Position für die Burka. Sie ist im besten Falle antikapitalistisch. Die Burka ist, auch aus den von Badiou und Power ausgeführten Gründen, eines der wenigen, „verbotenen“ Symbole, das nicht in die Vorstellung einer bunten, globalen, multikulturellen, durch Konsum geeinten Weltgemeinschaft passt.

Die Ideen von alternativer Gemeinschaft, die Unterwanderung und Sprengung konservativer Werte, sind Bestandteile von Döbereiners Arbeit und Biografie. Wie ich ist sie im Umfeld von Punk, Wave, Electro und Industrial aufgewachsen, in genau jener Jugendkultur, in der Entblößung, die Nähe zur Pornografie und Prostitution als subversiver, zynischer Akt galten. Durch Härte und Sexualisierung in der Mode, in der Musik, im Benehmen zeigte man sich so, wie man sich fühlte: als Ware, als Objekt, käuflich. Dieser Stil, zu dem auch damals bei Normalbürgern völlig verpönte Piercings, Tätowierungen, Netzstrümpfe, wasserstoffblonde Haare, das betont “Billige” und „Ordinäre“ gehörten, fand schnell Eingang in die Mainstream- Kultur, die er heute völlig beherrscht.

Das Format des Fanzines, die Herstellung im Copy-Shop, die Verwendung massenhafter, niedrig aufgelöster Bilder aus dem Internet, all diese Elemente von Ursula Döbereiners view sind Referenzen an die Punkkultur. Doch die Idee, eigene Copy-Magazine herzustellen, selbst zu vertreiben und Alternativen zum Markt zu schaffen, ist natürlich nostalgisch. Es gibt keine wirklichen Alternativen – leider, noch nicht. Eines ist aber ganz klar, es ist nicht die Zeit, sich auszuziehen. Es ist wohl besser, nicht alles herzuzeigen. In einer Art Mimikry erinnert uns view002b an alternative, vergangene Produktionsmethoden und Strategien. Als limitiertes Auflagenobjekt kombiniert es Fotokopie und Siebdruck und tritt dabei im Kunstkontext zugleich extrem pragmatisch und betont unprätentiös auf. Es ist preiswert, einfach handhabbar, jeder kann es erwerben. Es knüpft mit seiner dekonstruierten Bravo- Poster-Ästhetik an die Dekoration von Jugendzimmern an. Zugleich ist es ein Denkbaukasten, mit dem man sich alles für kommende Revolten basteln kann: die Tarnungen, die Schutzhütten, Werkzeuge, um Löcher in die Realität zu schneiden.

Oliver Koerner von Gustorf

1 Southbank Centre Literature Blog, posted on July 11, 2010 by Slavoj Žižek
2 ebd.
3 Alain Badiou, Behind The Scarfed Law, There is Fear IslamOnline.net - 3 März, 2004 http://www.lacan.com/islbad.htm
4 ebd.
5 ebd.
6 Nina Power, Die eindimensionale Frau, 2011, Merve Verlag, Berlin, S. 26
7 ebd.